Auf diesem Foto war ich müde und brauchte eine Pause, aber ich war auch noch lange nicht müde.
Wie geht das? Und was heisst das im Zusammenhang mit Grenzen und wie kommt hier das Bewusstsein ins Spiel? Eine Fortsetzung zum Thema "Grenzen" aus persönlicher Erfahrung.
Als Beispiel dient wiederum meine Teilnahme an der Tortour. Dieses Mal schreiben wir das Jahr 2021 als ich die Tortour als Solo-Fahrerin erfolgreich beendete und Vize-Schweizermeisterin wurde.
In Teil 1 habe ich darüber geschrieben, wie mir mein Körper Grenzen aufgezeigt hat. In Teil 2 spielt nun sowohl der Körper wie auch der Kopf eine Hauptrolle.
Ebenfalls habe ich in einem vorherigen Beispiel beschrieben wie wichtig das Bewusstsein für unterschiedliche Arten von Grenzen ist um gezielt und erfolgreich an und über seine eigenen Grenzen gehen zu können.
Das Thema "Müdigkeit" ist ein gutes Beispiel um dieses Bewusstsein und diese Differenzierung zu veranschaulichen und zu erklären.
In meinem persönlichen Ultracycling-Wörterbuch unterscheide ich zwischen vier verschiedenen Arten von Müdigkeit wenn ich sage "ich bin müde":
Nr. 1: müde Muskeln / Sehnen
Nr. 2: müde Gelenke
Nr. 3: mental müde
Nr. 4: Schlaf-Müdigkeit
Auf dem Bild hat mich nicht die Schlaf-Müdigkeit überkommen und ich habe auch nicht geschlafen. Ich war schlicht und einfach mental müde.
Das Foto wurde an der Time Station in Fiesch VS aufgenommen und zu diesem Zeitpunkt war ich ungefähr seit 350 - 400 km unterwegs, inkl. einer vollständig durchgefahrenen Nacht und Temperaturen von ca. 30 Grad am Nachmittag. Und ich musste einfach mal für ein paar Minuten runter vom Velo, mich hinlegen und die Augen schliessen.
In einem Ultracycling Rennen läuft die Uhr auch während Pausen weiter. Daher versucht man wann immer möglich auf dem Velo sitzen zu bleiben und das Anhalten oder Absteigen vom Velo zu vermeiden oder mindestens so lange wie möglich hinauszuzögern. Um dies zu erreichen, und die vier verschiedenen Arten von Müdigkeit ohne Stopps zu überwinden, gibt es verschiedene Strategien und Methoden auf die ich zurückgreifen kann.
Ein erster Schritt ist mir bewusst zu werden, um welche Art von Müdigkeit es sich handelt wenn mein erster Gedanke ist: ich bin müde. Dafür scanne ich meinen Körper und prüfe mein Befinden um herauszufinden wie genau ich müde bin. Dann versuche ich mit mir bekannten Methoden die jeweiligen Art von Müdigkeit zu überwinden. Manchmal braucht es einiges an Geduld und die Anwendung von verschiedenen Methoden bis dies gelingt. Die Erfahrung zeigt, dass der Grossteil solcher Phasen ohne Pausen überwunden werden kann.
Kritisch ist der Umgang und die Reaktion auf die Schlaf-Müdigkeit. Auch Schlafpausen kann man hinauszögern, aber man darf auch keinen Fall den Moment verpassen in dem die einzige Option ist: anhand, hinlegen und schlafen. Diese Grenze möchte und sollte man nicht überschreiten!
An der Tortour war ich "Tür zu Tür", also vom Aufstehen am Tag des Starts, bis zur Heimkehr nach dem Rennen, ca. 68 Stunden auf den Beinen, respektive im Sattel. Geschlafen habe ich in dieser Zeit einmal für 20 Minuten. Vor dem Start habe ich mich ausserdem 2 Stunden im Begleitauto hingelegt, aber soweit ich mich erinnern kann habe ich nicht geschlafen. Als ich im Ziel war, war ich zwar "müde", aber ich habe auch gemerkt: die Grenzen der verschiedenen Arten von Müdigkeit habe ich noch nicht erreicht, da liegt noch was drin.
Stay tuned für Teil 3 meiner Serie über persönliche Erfahrungen mit Grenzen.
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